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VISUS VISERE
kunstraum muenchen, 2011

Ästhetik und Kontrolle
von Slavko Kacunko



Die Erstveröffentlichungen von von George Orwell (1949) und Surveiller et punir von Michel Foucault (1975) markierten annähernd den Ausgangs- und Höhepunkt des Diskurses um die so genannten panoptischen Gesellschaften der Moderne. Der Dystopie-Diskurs selbst erhielt mit dem Gefängnismodell von Jeremy Bentham (1748–1832) seine rückprojizierte Symbolfigur. Die rationalistische Agenda, die die Wissenschaftsgeschichte seit Galileo Galilei fortschreibt, bildete schon lange dessen diskurshistorischen Hintergrund. Seit der Mitte der siebziger Jahre gewann die Diskussion um die Datenerfassung und -kontrolle auch im künstlerischen Umfeld immer mehr an Gewicht. Bis Ende der achtziger Jahre bekam die Omnipräsenz der Überwachung Konkurrenz mit der bereits omnipräsenten Überwachungsproblematik in der Kunst. Foucault, Deleuze und die poststrukturalistische Theorie lieferten hierbei sowohl entscheidende Impulse als auch Quellen für diverse Missverständnisse. Angesichts der wachsenden Bedeutung des Zusammenspiels von Ästhetik und Kontrolle überrascht es dennoch, dass diese Theorien, als Kinder des Kalten Krieges, bislang kaum im Lichte ihrer genuinen soziopolitischen Kontexte dargestellt worden sind.
Medienkunstgeschichte Die medienästhetischen Aspekte nehmen seitdem eine herausragende Stellung in der interdisziplinären Diskussion zur Datenerfassung und -kontrolle ein. Die Überwachungsproblematik erhielt ihre verlässlichen historischen und medialen Koordinaten im besonderen Maße aus der Geschichte der Video- und Medienkunst. Im Folgenden sollen deshalb einige kunst- und medienästhetische Aspekte der Datenerfassung und -kontrolle angesprochen werden, die für den Zusammenhang von Ästhetik und Kontrolle von Relevanz sein dürften. Die entsprechenden kunst- und diskurshistorischen Kontexte konvergierten deutlich bereits in den opulenten Titeln der Videoperformances, -bänder und -installationen von Marcel Odenbach (1953). Eine Arbeit von 1978 trug den Namen Die 1000 Augen des Doktor Mabuse oder Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die Konzeptbeschreibung des damals 26-jährigen Künstlers reflektierte eine für seine Generation charakteristische medienskeptische Attitüde im Kontext der dramatischen Ereignisse des ‚Deutschen Herbstes‘: „Die Technik steht kurz vor der Verselbständigung! [...] Durch diesen Mißbrauch ist sie unmenschlich geworden, sie wird brutal, indem sie die totale, perfekte Kontrolle stützt und nicht der Aufklärung dient. So wurden durch die RAF die Leute ohne Erbarmen der Technik ausgeliefert, die selbst diese Technik ohne Erbarmen anwenden. Es ist der gleiche Mißbrauch gegenüber dem Medium und die gleiche Brutalität gegenüber dem Menschen [...] Auf diese Antwort wendet sich wieder der Staat, indem er die Technik gegen subversive Elemente einsetzt und die freie Handhabung der Bürger mit dem Medium Video erschwert und kontrolliert, damit die Einwegkommunikation verhärtet, weiterer Entzug des Vertrauens [...] Nicht Menschlichkeit, sondern die Technik ist zu einem Machtfaktor erhoben worden, sie ist Vehikel der Herrschenden, im Dienste eines scheinbar demokratischen Deckmantels.“1 Eine andere Videoinstallation Odenbachs von 1980 trug den Namen 700 INTELLEKTUELLE BETEN EINEN ÖLTANK AN ODER DAS ENDE EINER ILLUSION. Die Inszenierung beinhaltete auch eine Wandinschrift, mit dem folgenden Zitat von Jean Baudrillard: „Das ökonomische System fällt auf die Fresse und deshalb erfindet man die Ökologie! Die Ökologie wiederum erfindet für alle Lebensbereiche noch einmal die soziale Verantwortung, die, wenn man nicht aufpaßt, neue soziale Kontrollen mit sich bringt.“2 Die Installation bestand aus monotonen Aufnahmen zufällig ins Bild herein- und herauslaufender Menschen, die insgesamt eine Art Überwachungskamera-Ästhetik demonstrierten. Eine solche audiovisuelle ‚Instantästhetik‘ entwickelte Odenbach aus der aktuell beobachteten Praxis des Anbringens von Überwachungskameras in den Straßen. Diese Ästhetik wurde ihrerseits zum Modell für die globale Entwicklung der Medienkunst, wie die Praxis der CCTV (Closed-Circuit Television) im künstlerischen Zusammenhang nachdrücklich beweist. Tausende von Closed-Circuit-Videoinstallationen (Live- Medieninstallationen) bestätigen die modellhafte Bedeutung der Forschung zur Datenerfassung und -kontrolle im ästhetischen und medialen Zusammenhang. Aus dem Gesamtüberblick haben sich einige inhaltliche Forschungsfelder herauskristallisiert, die als Modell für die gesamte Medienkunst dienen konnten: Subjekt-Objekt-Verhältnis‚ Wirklichkeitskonstruktionen, Systemmodelle und Verhaltensmuster, Spielkonzepte und Lernprozesse, Datenerfassung und -kontrolle und Telekommunikation. Der Grund für die hohe bis modellhafte Relevanz der sechs genannten Forschungsfelder für die mediale Kunst lag vor allem darin, dass gerade die zugegebenermaßen paradox klingende medial vermittelte Unmittelbarkeit im Kern der meisten installativen, performativen und videographischen Vorhaben zu liegen scheint. Das betrifft sowohl das so genannte ‚tracking‘ oder die mediale ‚Verfolgung‘ des Menschen in einem medialen Raum als auch das so genannte ‚mapping‘ oder die ‚Kartographierung‘ des realen Raumes selbst mithilfe audiovisueller Kontroll- und
V erfolgungsinstrumente.
Die Situation in den heutigen ‚Kontroll- und Überwachungsgesellschaften‘ hat sich in Hinblick auf den Zusammenhang von Ästhetik und Kontrolle seit Mitte der siebziger Jahre nicht wesentlich verändert. Die zur Gewohnheit gewordenen, in der Regel von zuständigen Innenministerien geschaffenen Fakten gehen nach wie vor Hand in Hand mit der in die Welt gesetzten Paranoia und regelmäßigen ‚Empörungen‘ über die industriell angestoßenen, politisch gebilligten und medial neu erschlossenen Bereiche der medialen Datenerfassung und -kontrolle. Die neue ‚Bildschirm‘-Technologie des Radars wurde seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den meisten Ländern zum unverzichtbaren Bestandteil der Territoriumssicherung und -kontrolle. Lev Manovich sah gerade in der massiven Nutzung dieses Mediums den Beginn der „modernen visuellen Kultur“.3 Die Überwachungskameras tauchten in den Kunstgalerien bereits Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre auf, also sogar bevor sie zum festen Bestandteil des Stadtbildes und der Gegenwartskultur insgesamt geworden sind.4 Fernsehklassiker wie Candid Camera (seit 1948) und natürlich auch Filmklassiker wie Rear Window (1954, Alfred Hitchcock), Peeping Tom (1959, Michael Powell), The Conversation (1974, Francis Ford Coppola) oder Videodrome (1982, David Cronenberg) brachten die unterschiedlichen Facetten der Überwachung und Kontrolle, ihrer Voraussetzungen und Nachwirkungen noch tiefer ins allgemeine Bewusstsein. Darüber berichtete schon 1987 die amerikanische Künstlerin Branda Miller in der ersten großen, von ihr mitkuratierten Ausstellung zum Thema Surveillance und unterstrich zu Recht die Potenziale der künstlerischen Beschäftigung mit der Datenerfassung und -kontrolle. Zehn Jahre später organisierte Jennifer Riddell am M.I.T. in Cambridge die international beachtete Ausstellung mit dem Titel The Art of Detection: Surveillance in Society, in der die immer komplexer werdende Problematik – wie beispielsweise wer wen, zu welchen Zwecken und mit welchen Mitteln überwacht –, die von der Kuratorin angesprochene „confusion of surveillance“, besonders hervorgehoben worden war.5 Die verschiedenen Formen der individuellen und kollektiven Paranoia, die damit verbundenen black budgets und nicht zuletzt die grundlegenden Fragen der Motivation zur Überwachung wie der Besitzschutz wurden dort retrospektiv und aktuell behandelt, auch im Hinblick auf die neuen Überwachungsformen, die sich in der Folge der Medienentwicklung an den neuen Formen und Definitionen des Besitztums orientieren (die so genannte dataveillance). Thomas Y. Levin, der Kurator der Ausstellung ctrl Space. Rhetorik der Überwachung von Bentham bis Big Brother am ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) in Karlsruhe 2002, fokussierte die Aufmerksamkeit auf neuere Formen der dataveillance, existent als biometrische Datenbanken6, deren historische Quellen zurückverfolgt werden können bis hin zu (pseudo-)wissenschaftlichen Praktiken wie der Phrenologie oder Schädeldeutung (Franz Joseph Gall, 1758–1828) und der Physiognomie oder Antlitzdeutung (Johann Kaspar Lavater, 1741–1801).
Die Vielfalt von sechs genannten medienkünstlerischen Forschungsfeldern spiegelt sich auch auf jeder einzelnen Unterebene, die hier nicht näher betrachtet werden können.7 Das hier speziell relevante Feld der ‚Datenerfassung und -kontrolle‘ reflektiert die Vielzahl der einsetzbaren Visualisierungstechnologien in Form von elektronischen Kameras, die von winzigen Kameramodulen und Videomikroskopen über thermale und Infrarotkameras bis hin zu den industriellen Überwachungsgeräten reicht. Selbstverständlich gehören auch alle anderen ‚tracking‘- und ‚mapping‘-Optionen zu diesem ästhetischen Feld, das offenbar in keinster Weise auf das Visuelle beschränkt ist. Beweise dafür liefern die ‚tagging‘-Techniken, also individuelle ‚Eigenschaftszuschreibungen‘, die durchaus auch als Kontrollszenarien eingesetzt werden können: Ein Datenobjekt oder eine Information im Internet wird so in einem Kontext gefunden, unabhängig davon, ob die gegebene Kontextualisierung der tatsächlichen Lage entspricht. Eine Art intransparente und korruptionsverdächtige content control wird von den Suchmaschinen in Zusammenarbeit mit dem zahlenden Anbieter etabliert. Die medienästhetische und -künstlerische Dynamik der Datenerfassung und -kontrolle stieg nicht zuletzt dank solcher Szenarien mit der weltweiten Verbreitung des Internets erheblich an. Viele Künstlerinnen und Künstler beschäftigen sich so seit Mitte der siebziger Jahre mit den Potenzialen alternativer Kontroll- und Überwachungsszenarien. Neben Dieter Froese (1937–2006) gehörte Bill Beirne (1941) zu den ersten, die das so genannte Mapping von bereits bestehenden urbanen Überwachungsstrukturen künstlerisch verarbeitet hatten.8 Initiativen gegen die Monopolisierung der Vergabe von IP-Adressen (Paul Garrin9) folgten diverse Anti-Surveillance Products wie der 2002 von Michael Naimark (1952) vorgestellte Camera Zapper10, ein „Antiüberwachungslasersystem“ und andere Projekte, die sich unter anderem auch dem Mapping von installierten Überwachungssystemen verschrieben haben.11
Unsichtbarkeit Die naheliegende Frage, die sich angesichts der Vielfalt (und manchen Einerleis) künstlerischer Ansätze in diesem Bereich stellt, ist: Was bedeutet es in unserem ‚schnelllebigen‘ Zeitalter, sichtbar und hörbar zu werden und zu bleiben und sich der Kontrolle zu unterziehen oder zu entziehen, wenn die omnipräsente mediale Instantaneität selbst zum Hauptmotiv, -material, -medium und zur Hauptmetapher der Kunst und der Wissenschaft avanciert ist? Im Hinblick auf die Medienproduktion, -distribution sowie -rezeption im Allgemeinen und die Medienkunst im Besonderen ist es unschwer zu erkennen, dass ihre diversen Stränge in das hic et nunc des ‚Live‘ hineinkonvergieren und dort auch ihren Ausgangspunkt haben. Wenn die Bild-Fläche die Negierung und zugleich die Affirmation des Raumes sei und der Raum die Negierung und Affirmation der Zeit-Dauer, dann müsste auch das ‚Hier und Jetzt‘ als Negierung und Affirmation der Zeitfolge zum Ausgangspunkt für die Erforschung der medialen Gegenwart werden. Die grundlegende mediale Eigenschaft der Live-Medieninstallationen und -performances ist demnach das Mediale selbst, verstanden als paradox-geschichtslose Augenblicklichkeit, die gerade deshalb exemplarisch als Modell für die Geschichte und Theorie der Medienkunst diente und auch künftig dienen wird. Aber der ästhetische und auch gesellschaftliche Relevanz-Test der Datenerfassung und -kontrolle ist damit noch lange nicht erledigt. Die so genannten Live- Medien-Bilder sind sowohl für die ‚massenmediale‘ Inszenierung der Sichtbarkeit als auch für eine bewusste und gezielte Inszenierung der Unsichtbarkeit verantwortlich. Auch hier lassen sich die mediale und künstlerische Genealogie seit den frühen siebziger Jahren gemeinsam zurückverfolgen. Den von Vito Acconci (1940) mit eingeleiteten Verfolgungsaktionen im öffentlichen Raum und seinen diversen medialen ‚Versteckspielen‘ folgten in ähnlicher Verfolgungsmanier die digitalen Reenactments im Kontext der Performance- und Netzkunst der letzten zehn Jahre.12 Allerdings sind die Letzteren nicht mehr im Kontext der ‚Aneignungskunst‘ zu betrachten, wie es bei manchen ihrer Pendants der achtziger Jahre der Fall war. Die Neuaneignung und -überprüfung von ‚Diskursen‘ und ‚Dispositiven‘ traten nun an deren Stelle. Die Konvergenz von kunst- und diskurshistorischen Kontexten erlebte also ein Vierteljahrhundert nach den Pionierversuchen eines Acconci oder auch Odenbach ihre neue soziomediale Aktualisierung. Die Kontrollszenarien in der Kunst werden selbstverständlich heute wie damals durch die realen Szenarien stets herausgefordert. Die Letzteren bekommen sowohl in absoluter Zahl als auch in Relation zu den eingangs erwähnten Beispielen der siebziger Jahre eine immer größere Relevanz für die Diskussion um die Ästhetik und Kontrolle. Wenn es um die Erlangung der ‚Unsichtbarkeit‘ (Privatheit, Intimität) geht, müssen solche Konzepte allerdings nicht nur diesseits wie jenseits der Kunst, sondern vor allem auch jenseits ihrer Bildlichkeit analysiert werden.
Das ‚Phänomen‘ der Unsichtbarkeit hat man sowohl bei dem ersten massiven öffentlichen Einsatz der so genannten stealth technology im Ersten Golfkrieg 1991 ‚gesehen‘ und man spürt es auch heute, wenn Ingenieure aller Couleur weltweit um die Patentrechte für das so genannte real cloaking device oder für das active camouflage suit wetteifern. Man kann hier von Closed-Circuit-Invisible-Making-Suits sprechen, die beispielsweise aus Hunderten von winzigen Videodisplays (für die Vorderseite der Träger) und dazugehörigen Chip- Videokameras (für die Rückseite ihrer Träger) zusammengebaut sind – von Systemen, die scheinbar nach wie vor zu den kreativen und technologischen Highlights unserer Zeit gezählt werden dürfen. Eine Szene aus dem im Dezember 2011 lancierten Hollywood-Action- Kracher Mission Impossible 4. Ghost Protocol (Regie: Brad Bird) bestätigt diese inzwischen jahrzehntelang andauernde Tendenz, die ebenfalls wie die deleuzesche Theorie von Differenz und Wiederholung ihre Ursprünge in den Zeiten des Kalten Krieges hatte. So gelingt es Ethan Hunt (gespielt von Tom Cruise), sich an einen Bewacher im Hochsicherheitstrakt des Kreml- Archivs heranzupirschen, indem er sich hinter einem solchen ‚unsichtbar machenden‘ Panel versteckt – einer tragbaren Vorrichtung, die durch Eye-Tracking-kontrollierte Videokamera- und -projektionsmodule ihrem Gegenüber den Hintergrundraum zeigt und damit den Eindruck vermittelt, sie und die dahinter versteckten Subjekte und Objekte existierten gar nicht. Die vermeintliche Grenze zwischen der Angriffs- und Verteidigungstechnologie wird in solchen Zusammenhängen auf subtile Art und Weise ad absurdum geführt: Nur das Unsichtbare scheint unfassbar und nur das Unfassbare scheint sich der Kontrolle entziehen zu können und – ergo – ein subversives Restpotenzial zu besitzen. Die Unsichtbarkeit und die Unbewusstheit als die Grundeigenschaften von so genannter Embeddedness und so genannter Surveillance Culture13 wurden historisch zu den wichtigsten Strategien der Medienkünstler und -aktivisten, indem sie auf die Unsichtbarkeit und Unbewusstheit der Schnittstellen insistierten, zugunsten der nicht-visuellen Präsentation. Das war definitiv der große Trend der Roaring Nineties. Die Fokussierung auf die ‚natürlichen‘ oder eher ‚intuitiven‘ Schnittstellen während der neunziger Jahre hat allerdings auch die Produktion von Hunderten von Projekten (meist Medieninstallationen) begleitet, bei denen es zumindest teilweise versäumt wurde, eine aktualisierte kritische Haltung zu der gegenwärtigen Einbettungs- und Überwachungsagenda zu entwickeln.
Aber wenn dem so sei, wie soll man es verstehen, wenn tatsächlich so viele Künstler, Politiker, Wiki-Leaks-artige Aktivisten und andere über die Enthüllung des Unsichtbaren sprechen? Auch hier ist erwartungsgemäß keinerlei Konsens in Sicht: Während die einen, darunter auch die Videokunst-Pioniere wie Madelon Hooykaas (1942) und Elsa Stansfield (1945 - 2004), darin ihre künstlerische Methode sehen (wie ihr retrospektives Buch Revealing
the Invisible von 2010 zeigt14), demonstrieren Künstler der darauffolgenden Generation wie Eduardo Kac (1962) eine andere Art von Bildkritik, indem sie behaupten, dass "More than make visible the invisible, art needs to raise our awareness of what firmly remains beyond our visual reach but which, nonetheless, affects us directly."15 Schritt für Schritt, dem Versteckspiel von Ethan Hunt nicht unähnlich, schließt sich der wissenschaftlich noch wenig erschlossene medienkunsthistorische Kreis, indem sein Aussichtspunkt und Horizont zwischen Immediacy of Image und Image of Immediacy kurzgeschlossen werden. Auch deshalb empfiehlt es sich, selbst die rezenten Diskussionen über die ethisch-politischen Implikationen der digitalen Einbettung und der sogenannten Überwachungskultur nicht nur mit Blick auf ihre heutigen medialen und kulturellen Auswirkungen (auf die Effekte und den Status quo) zu führen, sondern auch unsere historisch-kritischen Reflexionen ihrer Ursachen daran anzuschließen. Apropos ethisch- politische Implikationen: In ihrem Buch Invisible World (1995) erzählt Catherine Wilson eine überzeugende technologische Geschichte über die Entdeckung der Mikrowelt und ihre zeitverzögerte ‚Rezeption‘ im jahrhundertelangen Verlauf der Wissenschaftsgeschichte. Und apropos heutige digitale Embeddedness: Der zitierten Autorin, die der über zweihundertjährigen Verzögerung bei der Benutzung des Mikroskops nachging, ging es „nicht nur um absichtliche kommunikative Unterwanderung wie bei Embeddedness, sondern auch um die Ablehnung, etwas zu sehen, wo doch nur Täuschung sein kann.“16
Und weil unsere omnipräsente ‚Einbettung‘ in die digitalen Systeme und Netzwerke genauso wie unsere Überwachungskultur dazu neigt, die Produktion von Außenseitern zu maximieren, ist sie auch verantwortlich für die wachsende Zahl von Künstlern und für das Wachstum des spekulativen Investitionssektors von Kunst.
Beobachtung der Beobachtung Selbst die wenigen angeführten Beispiele zeigen es deutlich, dass die Datenerfassung und -kontrolle nur transdisziplinär begreifbar ist. Sie umfasst eine Vielfalt zeitgenössischer theoretischer Konzepte, einschließlich der Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Überwachung‘ im medialen, künstlerischen und sozialpolitischen Kontext. Nicht zuletzt die Beobachtung der Beobachtung ist einer ihrer wichtigen Beobachtungsgegenstände. Die Medienkunst adressiert dabei durch ihre sprichwörtliche ‚Halböffentlichkeit‘ auch die Fragen der ‚Überwachung‘ und der (Il-)Legalität des kontinuierlichen Überschreitens der kaum definierbaren Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum. Die politischen, zivilrechtlichen, psychologischen, physischen und anderen Auswirkungen der individuellen und kollektiven Datenerfassung und -kontrolle sind Themen umfangreicher Studien gewesen, die seit den fünfziger Jahren auch konkrete Fakten über den neuesten Stand der Dinge lieferten. An dieser Stelle können selbstverständlich nur wenige relevante kunst- und medienästhetische Aspekte dieser Epistemologie und Ästhetik der Kontrolle berücksichtigt werden. Die Vorsicht im Umgang mit der Deutung behavioristischer und ‚formaltechnischer‘ Merkmale des Menschen und mit den Grauzonen des human engineering bezieht sich auf den Umgang mit den entsprechenden Daten und ihre Kontrolle im heutigen Zeitalter der Biotechnologie, der AI (Artificial Intelligence) und des AL (Artificial Life). Die Humangenetik sowie das Neuro- und Brainmonitoring sind weitere, auch künstlerische Forschungsaspekte, genauso wie die ‚transhumanen‘ Bereiche Bionik und Evolutionstechnik17 sowie die hier nicht näher ausführbaren Fragen zum Profiling, bekannt vor allem aus der Kriminologie.18 Die Frage der systematischen Simulation gehört indessen zu den (auch ökonomisch) unterschätzten Aspekten der Überwachung und Kontrolle. William Bogard zeigt in seinem Buch The simulation of surveillance. Hypercontrol in telematic societies (1996) eine Parallele zwischen den digitalen ‚Simulationstechnologien‘ und der Überwachungskontrolle auf. Die These besagt, dass die Computerisierung seit dem Zweiten Weltkrieg zu einer gewaltigen Ausweitung der Überwachungsdimension und zur Ausbildung von „Überwachungsgesellschaften“ beigetragen habe.19

“Technologies of simulation are forms of hypersurveillant control, where the prefix ‘hyper’ implies not simply an intensification of surveillance, but the effort to push surveillance technologies to their absolute limit. That limit is an imaginary line beyond which control operates, so to speak, in ‘advance’ of itself and where surveillance – a technology of exposure and recording – evolves into a technology of preexposure and pre-recording, a technical operation in which all control functions are reduced to modulations of preset codes [...] Simulation technology, from the perspective I adopt here, is part of what I will call the imaginary of surveillant control – a fantastic dream of seeing everything.”20
Der Medienkünstler und -forscher Chris Dodge sieht zudem den aktuellen ‚digitalen Zustand‘ direkt und zutiefst verbunden mit dem ‚Phänomen‘ der Überwachung: “Although we are converging on a ubiquity of computation on a large global scale, we still face unanswered questions of what it means to ‘be digital’. Being allways under surveillance with our interactions recorded, we are transmitting permanently over the continuous landscape of data networks [...] Therefore, surveillance technology and the Internet can form a deconstructionist platform.”21
Kybernetik und Genetik Wenn wir uns auf die Suche nach den historischen Ursachen für diese Entwicklung begeben wollten, so fiel uns tatsächlich die Parallelität der Entwicklung der Kybernetik und der Genetik auf. Der umfassende Charakter der visuellen und sonstigen, rückkopplungsbasierten Überwachungs- und Kontrollmechanismen wurde zwischen den vierziger und siebziger Jahren besonders intensiv im kybernetischen und biologischen Zusammenhang verhandelt. Es überrascht nicht, dass diese Zeitspanne exakt dem eingangs angesprochenen Ausgangs- und Höhepunkt des Diskurses um die so genannten panoptischen Gesellschaften der Moderne (Orwell/Foucault) entspricht. Eingeführt wurde der Begriff Feedback um 1942 von Julian Bigelow und Norbert Wiener, und seitdem etablierte er sich Peter Weibel zufolge als „zentraler Begriff für die VR-Technologie [VR = Virtual Reality] und deren Vorstufen in Wissenschaft, Kunst, Medien (bes. Video) und Literatur“.22 Die Definition der Kybernetik, wie sie Norbert Wiener geprägt hatte, bezog sich dabei eindeutig und ausschließlich auf das so genannte Negativ-Feedback, das ausdrücklich der Kontrolle bezüglicher Systeme dienen sollte. Der Biologe, Anthropologe und Naturphilosoph Gregory Bateson (1904–1980) beschrieb in seiner Aufsatzsammlung mit dem Titel Ökologie des Geistes23 sein Treffen mit Julian Bigelow bei einer Konferenz der Macy Foundation 1942, als alle, wie es hieß, begeistert über Feedback diskutierten. Seine wertvollste wissenschaftliche Methode beschrieb sein Sohn, Gregory Bateson, als eine Kombination von so genanntem strict and loose thinking. In seiner Verhaltensforschung interessierte er sich besonders für die Untersuchung dessen, was er als den „Gefühlseindruck“ der Kultur („feel“ of culture) bezeichnete. So kam er sogar zu der Schlussfolgerung, dass das „Gefühl“ der Kultur in gewisser Weise ursächlich für die Gestaltung des Verhaltens sei. In einem Text aus dem Jahre 1967 mit dem Titel Kybernetische Erklärung schilderte Bateson diese im Kontrast zur kausalen, positiven Erklärung als negative Erklärung. Dort beschrieb er ausführlich Rückkopplung und Redundanz als Momente des kybernetischen Erklärungstyps. In einem Atemzug benannte er dort Organismen, Ökosystemen, Thermostaten, Dampfmaschinen mit Reglern, Gesellschaften und Computern. Gregory Bateson verdankte seiner eigenen Aussage zufolge den größten Teil seiner Ausrüstung an theoretisch-wissenschaftlichen Werkzeugen seinem Vater William Bateson (1861–1926), der Genetiker war und der 1905/1906 zum ersten Mal offiziell den Begriff ‚Genetik‘ benutzte sowie zugleich für die sich neu herausbildende Wissenschaft vorschlug.

Der kybernetisch-biologische Zusammenschluss der Computertechnologie mit der Genetik gehörte also in der Familie Bateson gewissermaßen bereits in den zwanziger Jahren zum Tischgespräch. Dieser Zusammenschluss wird heute als ‚Bioinformatik‘ bezeichnet. Sie ist eine Nachfolgerin des kybernetischen und auch utopischen Zeitalters der vierziger bis siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts und sie ist auch das Paradigma unseres, von Jeremy Rifkin so genannten „biotechnologischen“ Zeitalters.24 In einem 2008 erschienenen Sammelband mit dem Titel Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik25 beschrieben Michael Hagner und Erich Hoerl den technizistischen Ansatz der Kybernetik und seinen spezifischen, zwischen 1950 und 1975 entwickelten Erkenntnistypus als ein Symptom einer Neuorientierung nach dem Weltkrieg. Als eine Kombination aus Neurophysiologie, Regelungstechnik, symbolischer Logik, Rechenmaschinen und Kriegswissenschaft fand eine, wie es hieß, „Neuordnung“ statt: Mit Hilfe der Kybernetik sollten komplexe soziale Verhaltensmuster als selbstregulierende und kontrollierbare Feedback-Mechanismen beschrieben werden – eben ein umfassendes und selbst kaum kontrollierbares Kontrollszenario. Diese Neuordnung hat im Wesentlichen durch Analogiebildungen und Metaphorisierungen im Rahmen eines strict and loose thinking à la Bateson zu einem neuen, ebenso batesonschen feel of culture beigetragen. Die kybernetische Bewegung der fünfziger und sechziger Jahre erschien Hagner und Hoerl zufolge „wie eine Ouvertüre für das, was seit den achtziger Jahren unter Begriffen wie symmetrische Anthropologie, Posthumanismus oder Cyborg-Manifesto verhandelt worden ist.“26 Es ist unschwer zu erkennen, dass solche Diagnosen im direkten Zusammenhang mit der Vorstellung zu tun haben, Kultur im Sinne Batesons und seiner Nachfolger als Kommunikationsprozess aufzufassen. Mit Hilfe der Kybernetik könnten so komplexe soziale Verhaltensmuster als selbstregulierende Feedback-Mechanismen beschrieben werden.27 Schon der Titel der ersten Macy-Konferenz vom März 1946 Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Sciences war darauf angelegt, eine neue ‚Soziobiologie‘ zu etablieren, die sich in der „Angeboren/Angelernt“-Debatte auf die „Angeboren“-Seite schlägt. Auf diese Weise schufen die Feedbacktheoretiker und Kybernetiker mit den Worten von Jeremy Rifkin „einen kulturellen Überbau für die Akzeptanz der neuen Biotechnologien.“28 Es folgte eine Lawine von neuen wissenschaftlichen Untersuchungen über die genetische Basis menschlicher Verhaltensweisen. Die Video- und sonstigen Feedbackübungen – nicht nur in der Kunst und Musik, sondern auch in den Selbsterfahrungsgruppen der siebziger Jahre – gehörten zu den Symptomen dieses Glaubens, die sich allerdings bis hin „zum gegenwärtig beliebten human ressource management in Unternehmen und Büros ubiquitär verbreitet[en].“29 Im zitierten Sammelband von Hagner und Hoerl schlussfolgert Ulrich Bröckling in seinem Text Über Feedback. Anatomie einer kommunikativen Schlüsseltechnologie, „dass die Macht des Feedbacks gerade in den [auf Feedback] zurückgehenden Strategien des social engineering wirksam geworden“ sei.30

Warenästhetik Wenn wir nach diesem kurzen Exkurs noch einmal unsere Aufmerksamkeit auf die Kunst- und Medienästhetik der Kontrolle richten würden, dann müsste uns bereits auf ‚unmittelbarer‘, phänomenaler Ebene auffallen, dass die Gleichzeitigkeit der Aufnahme und Wiedergabe von Bildern, Tönen und Bewegungsabläufen – wie sie das Medium Video exemplifiziert – einer intuitiv verstandenen Ästhetik der Kontrolle zu widersprechen scheint. Dies hat wiederum mit der Unterscheidung zwischen den so genannten Übertragungsmedien und Speicherungsmedien, wie sie der Medienwissenschaftler Werner Faulstich zutreffend beschrieb31, zu tun. Denn dort, wo die unmittelbare mediale Aufnahme und Wiedergabe stattfindet, und zwar ohne dass eine (Zwischen-, Vorratsdaten-)Speicherung angewendet wird, dort ließe sich scheinbar auch keine Kontrolle oder auch keine nachträgliche Überprüfung des Ergebnisses gewährleisten. Das scheint auf der Hand zu liegen, aber nur auf den ersten Blick. Denn dabei vergessen wir, geblendet auch von den technologisch-kybernetischen Instrumentarien, dass die Anzahl der ‚Akteure‘, ihre schiere Masse, bereits die Funktion eines ‚virtuellen Speichers‘ erfüllt. Wir brauchen uns nur im Umfeld der so genannten Folksonomies, der sozialen Netzwerke, umzuschauen: Die Instantaneität der Datenerfassung und -kontrolle entzieht sich insofern auch der kategorialen Unterscheidung zwischen ihren tatsächlichen und simulierten Formen. Und weil die enorme Masse an Konsumenten das sensible Gleichgewicht eines Systems stabilisiert (‚siehe‘ die 800 Millionen Nutzer von Facebook mit dem unmittelbar bevorstehenden Börsengang des Unternehmens), muss abschließend auch die Warenästhetik in unsere Überlegungen zur Ästhetik der Kontrolle einbezogen werden.32 In einem dünnen Bändchen mit dem Titel Topologie der Kunst (2003) setzte sich Boris Groys unter anderem mit der früheren (kunst-)theoretischen Ableitung des ständigen Konsumierens vom individuellen Begehren (à la Lacan, Foucault u. a.) auseinander. Eine solche ‚Psychologisierung‘ und ‚Personalisierung‘ greife, so Groys, schon deshalb zu kurz, weil der Zwang zum Konsum, zum Shopping, vor allem moralischer Natur sei: „Sich der Gesellschaft gegenüber verantwortungsbewusst zu verhalten, bedeutet heute für ein Individuum, so viel wie nur möglich zu kaufen – unabhängig davon, ob es das will oder nicht.“33 Angesichts dieser wirtschafts- und machtpolitischen Lage erhebt Groys einen ‚topologischen’ Einwand gegen das Diktat der Heterogenität, gegen ‚bunte Vielfalt‘ wie auch gegen Mix und Crossover34 in der Kunst. Denn der zitierte ‚Zwang zum Shopping‘ stellte demnach eine politische, ökonomische und auch mentalitäts- und kontrollbedingte Teilursache für den neoliberalen Geschmack des heutigen ‚freien Kunstmarktes‘ dar. Dieser Markt lehnt alles Universale, Uniforme, Repetitive, Geometrische oder Reduktionistische ab. Aber genau dieser Ästhetik des Minimalistischen, Asketischen, Monotonen, Langweiligen und Homogenen bedient sich die Kontroll- und Überwachungsästhetik seit eh und je. Es scheint, als ob die vielgepriesene ‚Diversität‘ in ihrer kulturwissenschaftlichen Ausprägung ungeachtet und (un-)absichtlich auch dazu dient, die Monotonie und Berechenbarkeit, die Uniformität und Brutalität des wirtschaftlich politischen Mainstreams zu verdecken. Ist die Kunst – vor dem Hintergrund solcher Vorwürfe – heute etwa nur noch ein gut überwachter, turbokapitalistischer Spielplatz für Erwachsene? Der Interpretationswert der ‚Ware Kunst‘ wäre aus dieser Perspektive gesehen der einzige Aspekt, der die Kunst noch vom kaum kontrollierbaren Börsenspiel unterscheidet. Aber hat der Interpretationswert überhaupt einen Informationswert, wenn die Kunst als Ware unter die Lupe genommen wird? Und macht es überhaupt Sinn, die Kunst auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen zu wollen, wenn das spielerische Prinzip, das ‚als ob‘ und der fake den Grundgehalt, die Substanz dieser Ware bestimmt? Bezeichnet also nicht gerade die Kunst dasjenige Feld der Ununterscheidbarkeit, auf dem alle Mitspieler und Mitverantwortlichen systematisch aus ihren Verantwortlichkeiten entlassen werden müssen? Und besteht nicht gerade die Kunst des Kunst-Spiels darin, die eigenen spielgenerierenden Regeln (und damit die eigene Freiheit) zu verletzen? Womit sich im Übrigen unser kybernetisch-biologischer Kreis schließt: Jenseits der Freiheit hockt schon der Zwang in den Startlöchern, oder im besten Fall die Kontrolle, verstanden als negatives Feedback. Als Lackmustest für die Auflösung solcher ästhetisch-epistemischen Paradoxe kann die Internet-Plattform Second Life (SL) genommen werden. Es ist, streng genommen (zumindest aus der Gamer-Perspektive) kein Spiel. Es ist aber in seiner Ganzheit auch keine Kunst. Es ist natürlich eine Ware aus der Abteilung ‚Dienstleistung‘, eine Ware, bei der die umfassend überwachte und kontrollierte Freiheit ihrer Bewohner ein „Segen und Fluch zugleich“35 ist. Zu den verschiedenen ‚experimentellen Träumereien‘ in SL, die die Grenze zur Kunst und zum Aktionismus stets überschreiten, gehört auch der Traum von einer sich selbst replizierenden, gewaltlosen Konsumkritik.“36 Zwei Künstler-Avatare namens Amy und Slikerone entwarfen so von langer Hand eine kontrollierte virtuelle Rattenplage im SL- Kaufhaus.

Ethik und Ästhetik der Kontrolle Der Ausweg aus unserem scheinbaren kontrollästhetischen Dilemma zwischen Buntheit und Monochromie, zwischen Diversität und Uniformität, erscheint nur dann möglich, wenn das Verhältnis zwischen Ästhetik und Kunst gekehrt dargestellt wird: Anstatt nur eine der möglichen Manifestationen des Ästhetisch- Sinnlichen darzustellen, scheint die Kunst nur dann einen Rechtfertigungsgrund jenseits wirtschaftlicher oder institutioneller Theorien zu haben, wenn sie der Ästhetik übergeordnet dargestellt wird. Nur so lassen sich die die ästhetischen Akteure zerreißenden, entgegengesetzten Tendenzen darstellen und begreifen. Man müsste deshalb auch eine Ästhetik des Kapitalismus beschreiben und die in diesem Kontext aus den Rudern geratene oder ‚infinitesimale Ästhetik‘ thematisieren.37 Die hier avisierte Ästhetik der Kontrolle bleibt dennoch, zusammen mit der Problematik der Ressourcen und der des Gleichgewichts, der Horizont unserer Überlegungen. Die niederländischen Designer Michi Schwarz und Joost Elffer beschreiben den derzeitigen Zustand zutreffend mit dem Titel ihres Buches Sustainism ist the New Modernism.38 Die Situation, von der Giorgio Agamben schrieb, als er das „bloße Leben“ als eine tötbare, aber nicht opferbare Größe beschrieb39, stellt sich in unserem ‚biotechnologischen‘ Zusammenhang daher eher umgekehrt dar: Wir haben es mit einem ‚Leben‘ zu tun, das nun stets opferbar (austauschbar, verkäuflich, patentierbar, rekombinierbar), aber nicht mehr tötbar zu sein scheint. Die immer weiter perfektionierten Closed-Circuit-Technologien zur Visualisierung und zur Datenerfassung und -kontrolle liefern uns unentwegt Bilder dieses und solchen ‚Lebens‘ und sie halten uns damit so lange auf Distanz zu ihm, bis wir das Gefühl bekommen, als ob es uns nichts anginge. Eine neue Art feel of culture nach Bateson scheint derzeit die letzte Kontrollinstanz zu sein: eine Ästhetik, die angesichts der Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie nun diesen Namen kaum verdient, scheint die Kontrolle übernommen zu haben – eine ‚Quantenästhetik‘, die die ihr innewohnenden Entscheidungsprozesse scheinbar nur noch quantifiziert darstellen kann. Gleichzeitig verabschiedet man die Zeit des postmodernen Katzenjammers und des lähmenden Zweckpessimismus, indem man eine neue, zweckoptimistische Ethik der Kontrolle ausruft, während uns die allumfassende und buchstäblich über alles erhabene Vogelkameraperspektive die betörende Ästhetik unserer gemeinsamen Heimat vor Augen führt: „Es ist zu spät, um Pessimist zu sein“.40 Als ob es ein neues Prinzip Hoffnung gäbe, das keine Rechtfertigung bräuchte.41

Anmerkungen


1 Slavko Kacunko,
2 Wie Anm. 1., S. 343.
3 Lev Manovich, The Language of New Media. Cambridge 2001, 99.
4 Wie Anm. 3, 124.
5 Jennifer Riddell, The Whole World is Watching. In: The Art of Detection: Surveillance. Cambridge 1997, 3. – Fr.: surveiller; Engl.: surveillance stammt aus dem lateinischen vigilia. Dt.: Wachsamkeit, Schlaflosigkeit, der vierte Teil der Nacht.
6 URL: http://ctrlspace.zkm.de/.
7 Vgl. ausführliche Darstellung in: Slavko Kacunko,
8 Vgl. A Pedestrian´s Guide to Surveillance. Part 1: The Upper East Side Historic District. Vgl. Anm. 7., S. 536.
9 Vgl. http://name-space.org/ und http://freethemedia.org. – Pit Schultz, "Ist es Kunst?". Über die Funktionsweise und Hintergründe von "name.space". In: Telepolis (09.04.1997). URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/1/1167/1.html – Vgl. auch: Pit Schulz, Wem gehört das Web? Email-Interview mit Paul Garrin über sein Projekt Name.Space In: Telepolis (02.04.1997). URL: http://www.heise.de/tp/artikel/1/1159/1.html. Letzter Zugriff: 27.12.2011.
10 URL: http://www.naimark.net/projects/zap/howto.html.
11 URL: http://www.mediaeater.com/ cameras/.
12 Vgl. etwa http://0100101110101101.org. (Eva und Francesco Mattes).
13 Vgl. . URL: http://ubiquity.nu/.
14 URL: http://www.stansfield-hooykaas.net/.
15 Eduardo Kac, Transgenic Art. In: LifeScience. Ars Electronica 99 (Hrg. v. Gerfried Stocker u. Christine Schöpf ). Wien/New York, 293. Zit. nach: Ingeborg Reichle, The Art of DNA. In: Slavko Kacunko / Dawn Leach (Hrg.),
16 Martin Lang (Osnabrück), E-Mail an den Verfasser vom 23. Oktober 2011. Meinem geschätzten Kollegen verdanke ich diesen bibliographischen Hinweis.
17 Vgl. Stephen Wilson, 2002.
18 Vgl. dazu den Beitrag von Dr. Nils Zurawski, Universität Hamburg, Institut für kriminologische Sozialforschung: Alles gesehen? Alles verstanden? Potenzial, Bedeutung und Konsequenzen von Videoüberwachung als Kontrollinstrument im Rahmen der Vortragsveranstaltung zur Ausstellung Alexander Steig - VISUS VISERE, Samstag, 02. Juli 2011.
19 William Bogard, The simulation of surveillance. Hypercontrol in telematic societies. Cambridge 1996, 3.
20 Wie Anm. 19., 4/5.
21 Chris Dodge, E-Mail an den Verfasser 2002.
22 Peter Weibel in: Heinrich Klotz / Florian Rötzer / Peter Weibel, Perspektiven der Computerkunst, Ein Gespräch. In: Georg Hartwagner / Stefan Iglhaut / Florian Rötzer
(Hrg.), Künstliche Spiele. München 1993, 18. – Vgl. auch: Peter Weibel, KontextKunst. Kunst der 90er Jahre (Ausst.-kat.). Graz / Köln 1993.
23 Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt / M. 1990. Orig.: Steps to an Ecology of Mind. 24 Vgl. Jeremy Rifkin, Das biotechnische Zeitalter. Die Geschäfte mit der Genetik. München 1998
25 Frankfurt/M. 2008. – Ausschnitte sind verfügbar Online unter: http://www.ruhr-uni- bochum.de/ifm/_downloads/hoerl/hoerl_2008_human_vw_text2008.pdf.
26 Wie Anm. 25, 15.
27 Wie Anm. 25, 29.
28 Wie Anm. 24, 35.
29 Wie Anm. 25, 31.
30 Ulrich Bröckling, Über Feedback. Anatomie einer kommunikativen Schlüsseltechnologie. In: Michael Hagner / Erich Hoerl (wie Anm. 25.), 326-347, 347.
31 Vgl. Werner Faulstich, (Hrg.), Grundwissen Medien. München 1998 (3. Aufl.; 1. Aufl. 1994).
32 Hier nehme ich Bezug auf einen eigenen Aufsatz von 2008 rekurrieren, der den bezeichnenden Titel trug: Wa(h)re Kunst. Kontrollierte Rattenplage im Kaufhaus. Essay zur Ausstellung
33 Groys, Boris, Topologie der Kunst. München/Wien 2003, 47.
34 Wie Anm. 33., 233 f.
35 Christian Stöcker, Second Life, München 2007, 136.
36 Wie Anm. 35.,82.
37 Es handelt sich um ein aktuelles Projekt, in dem ich die Logik dieser Ästhetik in fünf Schritten beschriebe: Das ästhetische Denken, Wahrnehmen und Urteilen, die Aura der Eigentlichkeit, der Hang zum Heiligen, die Mächte des Dispositivs und schließlich die Infinitesimale Ästhetik.
38 Michiel Schwarz / Joost Elffer, Sustainism ist the New Modernism. A Cultural Manifesto for the Sustainist Era. New York 2010
39 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt 2002 (ital. 1995).
40 Der Film Home von Yann-Arthus Bertrand ist Online erhältlich unter: http://www.youtube.com/user/homeproject.
41 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Erster Band. Frankfurt / M. 1959. – Online einsehbar unter: http://04.diskursfestival.de/pdf/theorie_1_bloch.pdf.

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